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Der Schtetl Osteuropas
= Lebenswelt der jüdischen Kleinstadt in Osteuropa
In Abgrenzung zu den Juden aus dem Mittelmeerraum und aus dem Nahen Osten, entwickelte sich in Osteuropa ein spezielles jüdisches Milieu, mit eigener Sprache ("Jiddisch") und Lebensform.
Teils durch eigene Wahl und teils durch staatlichen Zwang (1796 beschränkte Katharina die Große den Lebensraum der Juden auf ein 400 000 qkm großes Gebiet in Weißrußland, das die Juden nur mit besonderer Genehmigung verlassen durften) erhielt sich im Schtetl der Talmudismus in der reinen Form und vermischte sich nicht mit äußeren Einflüssen, wie bei den Sepharden aus dem Mittelmeerraum.
Das ganze Schtetl-Leben war rigoros auf die Erfüllung der Gebote abgestellt.
THORA
- Die Thora ist nach rabbinischer Tradition der Schöpfungsplan Gottes, der göttlichen Ursprungs ist und vor aller Schöpfung erschaffen wurde. Diese Schöpfungs- und Weltordnung garantiert den Bestand der Welt.
(keine Trennung zwischen einem säkularen und einem religiösen Bereich)
- Die Thora wird als ein Kodex betrachtet, der absolut bindend ist, jedoch zur gleichen Zeit der Interpretation und Anpassung unterliegt; selbst bei drohender Todesfolge sind Konversion, Blutvergießen und Unsittlichkeit verboten.
Im Laufe der Geschichte mußte das Gesetz den sozialen, geographischen und wirtschaftlichen Bedingungen angepaßt werden, unter Erhaltung des Geist des Gesetzes. Jeder männliche Jude bildete sich eine eigene Meinung über diverse Fragen, der gelehrte Mann (Rabbi) war dabei der Schiedsrichter. Prägend ist für den Schtetl-Bewohner daher eine analytische Denkweise.
- Die gelehrte Tradition dient nicht nur der Vermittlung von Kultur, sondern ist auch eine bindende Kraft, die Einheit und Kontinuität in Zeit und Raum bewahrt, nachdem die Juden ein gemeinsames Gebiet und eine gemeinsame nationale Geschichte verloren hatten.
- Der Thoragehorsam ist eine zentrale Kategorie, denn das Volk Israel ist durch die Offenbarung der Thora durch Moses das auserwählte Volk geworden. Seine Besonderheit und Auszeichnung besteht in seiner Bereitschaft, den Gotteswillen gehorsam zu erfüllen. Der weltgeschichtliche Prozeß, der auf die endzeitliche Gottesherrschaft hinstrebt, wird beschleunigt oder verzögert durch den Gehorsam oder Ungehorsam (von den Orthodoxen werden die Verfolgungen ihres Volkes als Strafe für Verletzungen der Thoragebote angesehen)
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Schtetl in Vilna |
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GEBOTE (Mizwes)
Es bestehen im Judentum 613 in der Thora festgeschriebene mizwes, deren Studium die Pflicht eines gläubigen Juden sind.
Einschränkend muß jedoch bemerkt werden, daß selbst von den frommsten Juden nicht alle Gebote eingehalten werden können, aber es gibt mizwes, die die Basis jüdischen Verhaltens ausmachen:
- ethische Regeln
- soziale Pflichten
- religiöser Glaube
- Speisegesetze
Der Vertrag mit Gott (symbolisiert durch die Beschneidung) ist durchdrungen von der Idee der Belohnung und Bestrafung.
GELEHRSAMKEIT
- Die Gelehrsamkeit gab Prestige, Respekt, Autorität und Status, und deshalb taten die jüdischen Familien alles mögliche, daß die Kinder eine Schule besuchen konnten und um sie anzuspornen, Gelehrte zu werden, die das höchste Prestige innerhalb der jüdischen Gemeinschaft genossen.
rebbe ("mein Lehrer") = allgemeine Anrede für die Männer im schtetl
- Freude am Studieren, denn das Studium bot einen Fluchtweg aus der dunklen Realität zu einer freudigen Identifikation mit der Vergangenheit und dem Volk
- Jene, die das Gesetz kennen, waren verpflichtet, es den anderen zu erklären. So war unter den Juden ein gänzlicher Analphabetismus fast unbekannt, denn zumindest die Gesetze konnte fast jeder Jude lesen
UNTERRICHT
Der formale Unterricht begann zwischen 3 und 5 Jahren im dardeki chejder (=Kleinkindergarten). Mit 5 bis 6 Jahren begannen die Kinder die Thora zu studieren und mit 10 oder 11 Jahren den Talmud. Zum Teil mußten die Schüler an 5 Tagen wöchentlich bis zu 10 Stunden lernen.
Die höchste Stufe ist die Yeschiwa, die Rabbinerakademie, die finanziell von der Gemeinde getragen wird.
Der Lehrer war in der Volksmeinung kein Gelehrter, sondern jemand der überall versagt hat und und eine unwürdige Stellung innehat, weil er den kärglichen Bestand seines Wissens auch noch, zudem für einen kümmerlichen Lohn, verkaufen muß. Der Status des Lehrers stieg jedoch mit dem Niveau der Schule und dem Alter der Kinder.
ORGANISATION DER SCHTETL-Welt
- Die Schtetl-Welt bildete eine Inselkultur inmitten der Mehrheitsbevölkerung und ihr wurde in der Regel hohes Ausmaß an Autonomie gewährt, zumindest im unmittelbaren Tagesgeschehen und in religiösen Fragen. Zentrum des Geschehens war dabei die Synagoge als Versammlungshaus.
- ein Merkmal der zivilrechtlichen Maschinerie war das Fehlen jeglicher Macht zur Durchsetzung der Funktionen, die an den Schtetl delegiert waren. Allein die kombinierte Autorität von Rabbi und Gott konnte für die Durchsetzung sorgen, allerdings ohne absolute Autorität (andere Rabbis konnten eine andere Entscheidung treffen)
- Die Standpunkte der politischen Führer/Rabbis und ihre Anweisungen wurden von den Gläubigen nicht blindlings befolgt und geteilt, sondern sie wurden von jedem Einzelnen genauestens analysiert, diskutiert und interpretiert, denn er wollte die Gründe für eine Haltung einschätzen können.
- Es gab sprichwörtlich keine Geheimnisse im Schtetl (verschlossene Türen, Isolation, Vermeidung von Kontrollen durch die Gemeinschaft erwecken Argwohn) und es wurde als normal, natürlich und richtig angesehen, sich um jedermanns Angelegenheiten zu kümmern, verbunden mit dem starken Gefühl, daß einzelne füreinander verantwortlich sind. Diese kollektive Verantwortung war geprägt von dem Gefühl, wenn ein Jude schwer sündigt, kann Gott die ganze Gemeinschaft kollektiv bestrafen. (indirekt durch ungünstige Regierungserlasse, Epidemien oder Pogrome)
GELD
- Die Juden wurden immer zu Beschäftigungen gezwungen, die mit direktem Geldverkehr zu tun hatten. Bargeld galt bei den Juden als beste Form des Reichtums, da es bei einer etwaigen Flucht leicht mitgenommen werden konnte. Außerdem konnte es zur Bestechung benutzt werden, um sich Freiheiten zu erkaufen.
= Geld ist gut, als Mittel zu einem bestimmten Zweck (nicht als Selbstzweck). In dieser Funktion kommt das Geld in der Bewertung gleich nach der Gelehrsamkeit.
SCHTADLEN = Vermittler auf hoher Ebene zu offiziellen Regierungsstellen. Sie waren meistens reiche Juden, die deren Sprache und Vorlieben kannten und mit Geldern ungünstige Maßnahmen gegen die Juden manchmal verhindern konnten.
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- zielgerichtetes Sparen, um es dann auszugeben/investieren (als Mitgift, für Wohltaten, Erziehung u.a.)
- ein Geizhals wird als unjüdisch angesehen
- hohe steuerliche Belastungen durch die diversen Regierungen
STATUS
Im Schtetl bestanden große Differenzen zwischen und innerhalb den sozialen Gruppen:
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scheijne (schöne = gute) Leute
- Rabbiner, Gelehrte, "Sabbat-Leute"
- proste Leute
- Leute der Woche (unzählige Abstufungen im Prestige und der Frömmigkeit)
- bababatische Männer
- sie waren eigentlich proste Leute, zählten aber auch zu den schejinen Leuten, wegen ihres großen Reichtums und den damit verbundenen Spenden an die Gemeinschaft
- sie widmeten sich meist den Geschäften, waren nicht so traditionell und ließen mehr Freiraum in der Kindererziehung, so daß gerade aus diesen Familien viele Rechtsanwälte und Ärzte hervorgingen.
BERUFE
" Arbeite und Gott wird dir helfen "
Müßiggang galt im Schtetl als Sünde, denn nur vor dem Hintergrund ständiger Mühen ließ sich die Sabbatruhe voll genießen. Alle Möglichkeiten wurden genutzt, um den Lebensunterhalt bestreiten zu können (innerhalb der äußeren Beschränkungen)
Hauptzweige :
Kauf und Verkauf
Verarbeitung von Rohstoffen zu Fertigartikeln
Der Großteil der Schtetl-Bewohner verkaufte nur in ganz kleinem Rahmen, war als Handwerker (Schumacher, Schneider, Schmiede) beschäftigt oder als Ungelernte in anstrengender Tätigkeit.
Rangordnung der Berufe:
- sie war bis ins kleinste festgelegt
- es war besser für sich selbst zu arbeiten, als für jemanden anderen (Jeder versuchte unabhängig zu sein, auch wenn er einen kleineren Gewinn und eine geringere Sicherheit in Kauf nehmen mußte)
- es war besser mit dem Kopf als mit den Händen zu arbeiten, d.h der Kopf war das Grundkapital eines jeden Unternehmens.
jiddischer Kop(f) = wird gleichgesetzt mit schneller Auffassungsgabe, intuitiver Wahrnehmung und flinker Umsetzung von Gelegenheiten.
Der Schtetl bot nichtgenügend Auskommen für alle Bewohner, deshalb gingen viele in der Woche auf Reisen (Schneider, Schuster , Hausierer). Aufgrund der Überfüllung und der großen Konkurrenz untereinander hatten die meisten Bewohner mehrere Tätigkeiten, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Dabei konnten nur die wenigsten eine wirtschaftliche Stabilität erreichen.
So war die Auswanderung ein Ventil für die große Konkurrenz. Die Hauptmotive waren wirtschaftlicher Natur und auch die Flüchtlinge nach den Pogromen gingen in erster Linie, weil ihre Läden geplündert und die Quelle ihres Lebensunterhaltes vernichtet worden war. Zuerst gingen die unteren Schichten und die jungen Juden nach Übersee, bis sie ihre Familien nachholten. In den 1930er Jahren hätte die Schtetl-Welt in der Depression ohne jüdische Hilfe von US-Verwandten nicht überlebt.
GEBOT des GEBENS/WOHLTÄTIGKEIT
- an der Bereitschaft gute Werke zu tun, kann man einen "wirklichen" Juden erkennen (Mitleid als typisch jüdischer Wesenszug). Mit großen Wohltaten kann Prestige erworben werden und das Leben nach dem Tode hängt am meisten von der Anzahl und der Qualität seiner guten Werke ab.
Prinzip der sozialen Gerechtigkeit :
- jedes Mitglied der Gemeinschaft muß versorgt werden (oft auf institutioneller Ebene) und Wohltätigkeit wird als soziale Gerechtigkeit und als Pflicht angesehen.
SCHNORRER (=professionelle Bettler)
- er hat nur eine geringe Achtung im Volk, weil er öffentlich um Gaben bittet; aber einem Bettler Gaben zu geben ist eine gute Tat, die wichtig für das Leben nach dem Tode ist.
- die Schnorrer hatten ihre regulären Runden und wegen der Verpflichtung zu geben, konnte er sich sicher sein, daß er etwas bekommt und verhielt sich zum Teil sehr arrogant und fordernd
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FRAUEN
- Frauen galten als minderwertiger als der Mann, denn von ihnen würde die Gefahr ausgehen, die Männer vom Studium abzulenken. Daher sollten sich die Geschlechter im Schtetl möglichst meiden (u.a. Teilung der Geschlechter bei öffentlichen Anlässen) und es wurden zahlreiche Vorsichtsmaßnahmen getroffen, daß die Frauen nicht begehrlich erschienen (z.B. trugen die Frauen lebenslang Perücken)
Außerdem war ihnen das Studium der göttlichen Gesetze verwehrt.
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Verpflichtungen |
- ständiges Studium der Worte Gottes
- Familien gründen, um die Menschen, die sich dem Dienste am wahren Gott widmen, zu vermehren
- Einhaltung der zahlreichen Gebote
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Privilegien |
- das Recht, um Gesundheit und Lebensunterhalt zu bitten, in der Hoffnung erfüllt zu werden
- Erwartung des Messias, der die Leiden der Diaspora beendet und sie ins Gelobte Land zurückführt
- Heilserwartung in der zukünftigen Welt, dem Jenseits
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